Leben In der dunklen Jahreszeit schmerzt Verlust besonders – Wiesmoorerinnen erzählen
DER GENERATIONENTREFF IM „BI US“ IST FÜR VIELE ZUM ANLAUFPUNKT GEWORDEN.
FOTO: CORDSEN
Ole Cordsen
Wiesmoor – Es gibt Momente, da verschlingt die Stille plötzlich alles. Im Leben von Trude Sievers kann dies passieren, wenn die Erinnerungen an Hartmut sie packen – den Mann, den sie am Gründonnerstag ohne jede Vorwarnung verlor. Sekundentod. „Mit ihm war mein Leben voller Musik. Zu Hause hat er gern zum Akkordeon gegriffen, gerade jetzt hätten wir Abend für Abend Weihnachtslieder gesungen. Wenn wir mit dem Rad unterwegs waren, hatte er immer eine Mundharmonika dabei, und wenn wir Pausen gemacht haben, hat er sie rausgeholt, gespielt und ich habe gesungen“, sagt sie, während sie mit Tränen ring und freundlich bittet, nicht ihren echten Namen zu veröffentlichen. „Mir geht all das noch zu nah. Ich habe noch sehr damit zu kämpfen. Es gibt gute Tage, aber immer wieder fällt man auch ins Loch. Dann hängst Du allein im riesigen Haus, wo so vieles an ihn erinnert, und weißt nicht, wohin mit dir.“ Und dann schmerzt die Stille und die Trauer greift um sich. „Gerade dann wünscht man sich, vom Menschen, den man geliebt hat, in den Arm genommen und gedrückt zu werden. Und genau dann wird einem umso bewusster, dass er fehlt.“
Den plötzlichen Verlust ihres langjährigen Partners hat die Wiesmoorerin schon zum zweiten Mal erlitten: „Vor etwa 20 Jahren, ich wohnte noch in einem kleinen Dorf weitab, starb aus dem Nichts mein erster Mann, ebenfalls Sekundentod. Ich habe mehr als zwei Jahre gebraucht, um mich irgendwie wieder aufzurappeln.“ Noch drei Jahre später lernte sie Hartmut kennen, „so ein Lieber war das“, sagt sie. „Geholfen hat mir, dass zuvor mein Ehemann in einem fast irritierenden Moment und ohne etwas zu ahnen, einige Monate vor seinem Tod plötzlich zu mir sagte: ,Wenn mir mal
etwas passieren sollte, möchte ich, dass du glücklich bleibst und nicht einsam wirst.‘“ Mit Hartmut fand sie neues Glück, zog vor einigen Jahren deshalb auch nach Wiesmoor. Fast 14 Jahre lang blieben sie ein Paar.
Dies bewegt jetzt, in der dunklen Jahreszeit, umso stärker – wo die Düsternis sich deutlich länger über die Tage legt, die stillen Feiertage den Verlust lieber Menschen stärker ins Bewusstsein bringen, Weihnachten näher rückt und sich Alleinsein umso einsamer anfühlen kann. Wie geht es in dieser Zeit Menschen, die ihren Partner verloren haben, und wie gehen sie damit um? „Ich suche mir immer etwas, wo ich hingehen kann“, sagt Trude Sievers. Seit im Sommer das neue Begegnungscafé „Bi us“ des Wiesmoorer Generationenvereins eröffnet hat, trifft sie sich dort donnerstags, backt Kuchen für die Treffen, hat neue Leute kennengelernt, unterhält sich mit Frauen, die ähnliches erlebt haben – wie auch wir, um unserer Frage nachzugehen. Etwa 40 Menschen kommen donnerstags von 15 bis 18 Uhr zum Generationencafé dorthin, gut doppelt so viele Frauen wie Männer. „Es wird toll angenommen“, sagt die Vereinsvorsitzende Manuela Stadlander-Lüschen. „Und man merkt, wie gut es den Menschen tut, sich nahe sein zu können.“ Das war in den Corona-Jahren schwierig möglich, und Treffen wie jetzt im „Bi us“ gab es vom Verein vorher auch, aber nur im privaten Rahmen.
Wenn Trauer länger als erhofft dauert
Stadlander-Lüschen ist seit etwa acht Jahren Witwe, hilft zugleich ehrenamtlich, wo sie kann, um Unterstützung zu vermitteln, Generationen zusammenzubringen, Kontakte aufzubauen. „Als mein Mann verstarb, sagten alle: ,Das erste Jahr ist das Schlimmste, das erste Vierteljahr besonders. Ich konnte die Trauer kaum ertragen, habe mir gesagt, ,ich bleibe jetzt ein Vierteljahr lang auf dem Sofa sitzen und warte, bis es besser wird.‘“ Ihre Familie sei rührend und verständnisvoll gewesen. „Doch irgendwann mag man fast nicht mehr sagen, dass es immer noch weh tut, dass einen das Vermissen immer noch tieftraurig macht – auch bei oder nach Familienfeiern, wo man sonst wie selbstverständlich gemeinsam war, und plötzlich bist du da allein. Und wo man auf der Rückfahrt sich erzählt hat, was man erlebt und erfahren hat, ist man plötzlich allein unterwegs.“ Sie habe auch gelernt: „Es ist unglaublich wichtig, in Kontakt zu bleiben, Menschen um sich zu haben. Wenn man sich nur vergräbt und mit sich und der Trauer allein bleibt, wird man krank.“ Trude Sievers wirft ein: „Das ist total richtig, aber man muss den inneren Schweinehund, der einem im Weg rumliegt, auch erstmal wegschieben. Sich aufraffen ist das Wichtigste – aber auch das Schwierigste.“
Stadlander-Lüschen sagt auch: „Man merkt auch erst, wenn jemand fehlt, an wie vieles man sich gewöhnt und an wie vieles man Erinnerungen geknüpft hat. Kleinigkeiten im Haus, aber insbesondere auch Fotos, kleine Videos, Dinge, die man in die Finger bekommt und bei denen einem Tränen kommen können, weil sie Erinnerungen und Vermissen auslösen. Das kann einen umhauen.“ Vorgenommen hatte sie sich, mit dem Trauern zumindest nach drei Jahren fertig zu sein. „Doch erst jetzt, nach acht Jahren, konnte ich erstmals ohne Kloß im Hals im Urlaub den Ort erleben, in dem wir früher gemeinsam so oft waren und womit so viele gemeinsame Erinnerungen verknüpft sind.“
Corona machte vieles noch schwieriger
Trude Sievers sagt: „Schade ist, dass durch Corona so viele Tanzveranstaltungen eingeschlafen und verschwunden sind. Wie so vieles im Miteinander jetzt erst langsam wiederkommt.“ Das ist etwas, das auch Frank Schüür vom Senioren- und Pflegestützpunkt des Landkreises Leer beobachtet. „Für mich sind die größten Verlierer der Coronazeit die älteren Menschen. Gerade die, die nicht mehr selbst mobil sind, vielleicht auch noch allein in einem Dorf abseits auf dem Land leben und deren kleine Rente nicht reicht, um sich regelmäßig in die Stadt aufmachen zu können und an Angeboten teilzunehmen. Die auch aus Sorge um ihre Gesundheit sich vorsichtshalber zurückgezogen haben, oder denen bei Treffen zum Teil auch Geld fehlt, um sich Kaffee und Kuchen leisten zu können“, sagt er. Vor Corona habe es im Kreis Leer allein rund 60 aktive ehrenamtliche Seniorenbegleiter gegeben, 10 bis 18 wurden jährlich neu ausgebildet. „Aktuell haben wir noch 25 Aktive und den Kursus für die Ausbildung zum Seniorenbegleiter mussten wir in diesem Jahr streichen, weil wir nur drei Anmeldungen hatten“, sagt er. „Während Corona, wo wir gedacht hatten, dass Hausbesuche besonders gefragt waren und beim Sorgentelefon das Telefon nicht stillsteht, war das Gegenteil der Fall. Gerade Zugezogene, die hier wenig Netzwerk und keine Familie haben, vereinsamen nach dem Verlust des Partners. Für die ist mitunter der Pflegedienst, der einzige soziale Kontakt, wenn er vorbeikommt“, sagt Schüür. „Und wir bemühen uns, diese Menschen zu erreichen, um zu schauen, wie wir ihnen Kontakte ermöglichen und vermitteln können. Aber das bleibt ein großes Problem – auch, weil man längst nicht von allen weiß.“ Und das Problem wachse, denn jetzt schon seien rund 30 Prozent der Bewohner im Landkreis Leer älter als 60 Jahre, bis 2030 seien es voraussichtlich 35 Prozent. „So sehr wir uns wirklich bemühen, da zu helfen: Jeder Einzelne muss am Ende auch selbst aktiv werden, sich trauen und aufraffen mitzumachen und wieder am Leben teilzunehmen.“
Diesen Schritt sind die Frauen, die sich in der munteren Runde beim Seniorentreff in Wiesmoor begegnen, schon gegangen. Bei Tee und Kuchen, auch mal bei Bier oder einem kleinen Sekt, tauschen sie sich aus. Hecken Pläne aus, gemeinsam ins Theater zu fahren – oder einen Cocktailabend zu organisieren. Erzählen sich, dass sie an Weihnachten ihre Kinder besuchen fahren. Einige überlegen, ihre Häuser, in denen viel an die Partner erinnert, zu verkaufen.
Partnerverlust auch als Neuanfang
Sie berichten sich davon, wie es war, nach dem Verlust ihrer Partner plötzlich selbst Entscheidungen treffen zu müssen – und selbst dafür gerade zu stehen, wenn die mal schiefgehen, wo das die andere Hälfte doch lange übernommen hatte. Sie erzählen sich davon, wie sie im hohen Alter wieder Autofahren gelernt haben und vom Stolz, sich den Umgang mit Bohrmaschine, Hammer oder Schraubendreher angeeignet zu haben. Davon, wie gut es getan hat, sich dem Kirchenchor anzuschließen. Ein paar Frauen, die sich häufiger bei der Grabpflege auf dem Friedhof getroffen hatten, haben sich zusätzlich zum Single-Club „Lustige Mädels“ zusammengetan. „So sehr die Partner fehlen, so schwer es auch ist, wenn man krank ist – und da ist keiner mit im Raum, der einem eine heiße Suppe macht oder einen in den Arm nimmt: Wichtig ist doch, dass man trotzdem weiter lebt. Dass man sich selbst vielleicht auch nochmal neu kennenlernt und plötzlich merkt, was man alles kann“, sagt Manuela Stadlander-Lü schen. „Und dass man trotzdem weiter Leute um sich hat, mit denen man lachen und sich austauschen kann. Wenn man Freunde hat, die anrufen und einen aus einem Tief rausholen.“ Längst nicht jede der Frauen wünscht sich nach dem Verlust des Partners einen neuen. „Was Neues anzufangen sollte auch heißen, es nicht mit dem Alten zu vergleichen. Das ist ein Abenteuer. Aber das für sich stehen lassen zu können wird schwieriger, je länger man vorher denselben Partner hatte, je mehr man sich eingerichtet und Erfahrungen gemacht hat“, sagt Trude
Sievers. „Bei mir muss alles jetzt erstmal ein bisschen sacken. Ich fände schon schön, mit etwas Abstand, nochmal jemanden zu finden“, sagt sie.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitungsgruppe Ostfriesland GmbH.